Band 3
der Reihe "Die große Südstaaten-Saga"
Amerika, 1861: Obwohl ihr heimlicher Verlobter David Williams in den Krieg gezogen ist, bleibt die Nordstaatlerin Annie Braun auf der Plantage seiner Eltern in South Carolina. Sie fühlt sich für die Familie Williams und die Sklaven auf Birch Island verantwortlich. Doch immer wieder bringt ihr Engagement die junge Lehrerin in gefährliche Situationen. So auch als eines Tages ein unheimlicher Fremder auftaucht, der Annie auflauert und nichts Gutes im Sinn zu haben scheint. Und dann muss sie sich noch mit Davids Schwester Victoria herumschlagen, die ihr Steine in den Weg legt, wo sie nur kann.
In Washington City beherbergt die Südstaatlerin Susanna Belle weiterhin Frauen und Kinder in Not. Dabei gerät sie in unheilvolle Gefahren – nicht zuletzt, da sich unter ihren Schützlingen eine Rebellenspionin befindet. Zugleich fürchtet sie um das Leben ihres Ehemanns, der dich als Reporter der Nord-Armee angeschlossen hat.
„Das Schimmern der Träume“ ist der dritte Band einer emotionalen, mehrbändigen Familiensaga rund um den amerikanischen Bürgerkrieg, in der sich abgrundtiefer Hass, ein gnadenloser Krieg und unmenschliche Ungerechtigkeiten mit der großen Liebe, tiefgehender Freundschaft und den kleinen Freuden des Lebens die Hand reichen.
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Birch Island, South Carolina
Jamie Roberts bremste scharf ab und bog in eine geteerte Straße ein. Ihre Beifahrerin hielt sich an ihrer Handtasche fest, die jedoch keinen Halt bot. Die Reifen quietschten, das Auto schlingerte und drohte seitlich auszubrechen. Jamie stoppte den Wagen und blickte entschuldigend zu ihrer Urgroßmutter hinüber, die sie mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.
"Tut mir leid, Grandmama. Aber ich habe die Abfahrt erst sehr spät gesehen."
"Seither nahm ich an, so ein Fahrzeug besitze einen Rückwärtsgang und du seiest dir dieser Tatsache bewusst." Johanna Delare öffnete die Tür und stemmte sich aus dem alten Ford. Ein würziges Gemenge aus feuchter, fruchtbarer Erde und dem Duft zahlreicher Blüten wehte herbei. Dieses lockte Jamie ins Freie. Staunend sah sie sich um. Gerade und stolz wuchsen die noch recht jungen Goldbirken dem tiefblauen Himmel entgegen. Sie flankierten die Straße, die zu einem großen weißen Plantagenhaus führte, das zwischen den Alleebäumen allerdings kaum zu sehen war. Alte Virginiaeichen mit grauen Moosbehängen, ausladende Buchen und Weihrauch-Kiefern standen auf einer hügeligen, mit Blumen geschmückte Wiese, die von Feldern und den angrenzenden Mischwäldern eingerahmt wurden.
"Ist das nicht wunderschön?", schwärmte Jamie. Ihre Urgroßmutter nickte lediglich, doch ihre hellblauen Augen leuchteten hingerissen.
"Grandmama, kannst du dir das vorstellen? Wir sind auf Birch Island!", jubelte Jamie übermütig.
"Der Pavillon fehlt. Mutter erzählte immer so begeistert von dem bezaubernden, in einer Senke gelegenen Teich mit einem weißen Pavillon auf der Anhöhe."
Jamie folgte mit den Augen der ausgestreckten, zitternden Hand ihrer Urgroßmutter. "Du hast recht, da scheint es ein Gewässer zu geben. Und sieh dir nur diese Trauerweiden an. Ich liebe Trauerweiden! Aber komm jetzt, wir werden erwartet."
"Jemand erwartet uns?" Johanna sah sie zweifelnd an.
"Ich habe noch eine Überraschung für dich." Voll quirliger Vorfreude half Jamie Johanna zurück in den Wagen und setzte sich hinter das Steuer. Deutlich gemächlicher als zuvor, die idyllische Landschaft förmlich in sich aufsaugend, fuhr sie die Straße zum historischen Herrenhaus entlang.
"Weiße Kieselsteine – hier müssen früher Kieselsteine gelegen haben. Die kleinen Sklavenjungen mussten sie in jedem Frühjahr säubern."
"Deine Mutter liebte Birch Island, nicht wahr?"
"Ja, sie liebte es, doch nachdem sie es verlassen hatte, ist sie nie wieder zurückgekehrt."
"Aber wir sind jetzt hier, um uns alles ganz genau anzusehen."
"Jamie, Liebes?"
Fragend warf Jamie einen Blick auf ihre Beifahrerin.
"Anfangs habe ich deine Idee für albern gehalten. Doch jetzt möchte ich dir sagen, wie dankbar ich dir bin. Es ist ein Geschenk, all das zu sehen, wovon meine Mutter immer so geschwärmt hat."
Jamie lenkte den Wagen auf das Rondell und parkte vor der ausladenden, weißen Freitreppe. Während Johanna die Pflanzen auf der kleinen Mittelinsel des runden Vorplatzes betrachtete, betätigte Jamie die antikwirkende Glocke an der grüngestrichenen Eingangstür.
Eine grauhaarige Dame, mit funkelnden grauen Augen öffnete lächelnd. Sie wirkte nicht minder aufgeregt wie Jamies Urgroßmutter.
"Sie sind bestimmt Jamie Roberts?"
Jamie nickte beipflichtend. Plötzlich war auch sie nervös.
"Und Sie müssen Johanna Delare sein, Annie Brauns Tochter." Die ältere Dame blickte Johanna entgegen, die gerade die Stufen heraufkam.
"Grandmama, darf ich dir Miss Settrick vorstellen?"
"Settrick? Wirklich?" Johanna betrachtete die Frau vor sich fassungslos. "Sie sind ...?"
"Ja, ich bin Marianna Williams Settricks Tochter."
Die Frauen musterten einander, dann streckten sie zeitgleich beide Hände nach der jeweils anderen aus. Lange hielten sie sich fest – und erneuerten das Band der Freundschaft, das einst ihre Mütter geknüpft hatten.
~~~
"Siehst du den alten Mann im Rollstuhl, nahe beim Teich?"
Jamie erhob sich aus dem Schaukelstuhl und beschattete ihre Augen mit beiden Händen, um besser zu den Trauerweiden hinüberblicken zu können. Tatsächlich saß dort ein grauhaariger, schmächtiger Mann, der offenbar tief in Gedanken versunken auf die mit Abertausenden von blitzenden Sternen überzogene Wasseroberfläche blickte.
"Er wartet auf dich."
"Auf mich?"
"Ja, er ist ein hervorragender Geschichtenerzähler, und er freut sich darauf, dir seine Geschichten zu erzählen." Etwas misstrauisch blickte Jamie erneut zum Teich. Warum sollte sie sich mit einem unbekannten, alten Mann unterhalten wollen? Amelia Settrick lächelte verstehend. "Er kam vor vielen Jahren hierher zurück. Angangs wollte ihm niemand glauben, dass er, wie er erzählte, hier geboren sei, ja sogar Anteil am Erbe Birch Islands habe."
"Wer ist er denn?"
"Sein Name lautet Mite Tree Williams."
Johanna, die von ihrer Mutter all die Geschichten um das alte Birch Island kannte, atmete scharf ein. "Mite lebt noch?"
"Ich sehe, Annie hat dir von ihm erzählt. Komm Jamie, mach dem alten Geschichtenerzähler eine Freude. Ich verspreche dir, es wird dich interessieren und fesseln, was er zu berichten hat."
Jamie ging zögernd, begleitet von Amelia, über die hölzerne, weiß gestrichene Veranda zu den Stufen, die auf die Parkwiese führten. Einige Liegestühle und Sonnenschirme standen nahe beim Haus, frequentiert von Frauen unterschiedlichen Alters.
"Ist Birch Island eine Art ... Pension?", hörte Jamie ihre Urgroßmutter fragen.
"Nein, Johanna. Es ist eines von mehreren Erholungsheimen der Tanner-Stiftung."
Noch immer unschlüssig blieb Jamie stehen. Sie war neugierig auf die Gespräche der beiden älteren Damen und deshalb widerstrebte es ihr, zu gehen. Johanna schien dies zu spüren, denn sie sagte, gegen die Sonne anblinzelnd: "Geh zu ihm, Liebes. Mite Williams kannte deine Ururgrossmutter. Es wird dich interessieren, ihre Geschichte aus seiner Sicht zu hören."
Jamie folgte der drängenden Bitte und verließ die Veranda über die wenigen Stufen. Ein dichter Teppich aus Gänseblümchen und Veilchen wies ihr den Weg. Oberhalb einer der wie Wellen durch die Wiese verlaufenden Hügel blieb sie stehen, schob die weit herunterhängenden, biegsamen Zweige einer Trauerweide auseinander und musterte den hellhäutigen Mann, in dem sie nun, aus der Nähe, einen Nachkomme einstiger Sklaven vermutete.
Sie stieg das abschüssige Ufer hinunter zu dem tiefgrünen Teich mit seinen Seerosen, Binsen- und Schilfgewächsen. Sie näherte sich dem Mann, der unübersehbar sehr alt war. Jamie schätzte ihn, zumal sie nun wusste, dass er Annie Braun noch gekannt hatte, auf über einhundert Jahre.
"Guten Tag, Mr Williams", sprach sie ihn an. Zwei dunkle Augen, eingebettet zwischen unzähligen Falten, musterten sie freundlich. "Herzlich willkommen auf Birch Island, Jamie Roberts."
Auf seine einladende Geste hin ließ sich neben dem Rollstuhl ins Ufergras fallen. Sie entledigte sich ihrer Schuhe und Strümpfe und tauchte die Füße ins angenehm kühle Nass. Dabei musste sie sich eingestehen, dass sie sich noch nie so unsicher gefühlt hatte, wie in diesem Augenblick. Der Hauch einer längst in der Vergangenheit verlorenen Geschichte schien über das weitläufige Anwesen zu wehen. Fragend sah sie zu dem alten Mann auf. Er hatte die Augen geschlossen, seine Hände lagen gefaltet im Schoß. "Darf ich dir etwas erzählen?"
"Vom Bürgerkrieg?"
Ein breites Lächeln legte sich auf sein Gesicht, dann hob er dieses der wärmenden Sonne entgegen.
"Ja, eine Geschichte aus dem Krieg, der die Staaten zusammenhalten sollte und dafür Familien entzweite. Eine Geschichte über jene Menschen, die damals hier lebten und wussten, dass ihnen allein Gottes Gnade genügen würde."
"Sie kannten meine Ururgrossmutter?"
"Ja, aber ich kann mich kaum an sie erinnern. Ich war noch ein Kind, als dies alles geschah. Ein kleiner, schmächtiger Sklavenjunge."
Jamie machte es sich bequem, indem sie sich mit dem Rücken an einen der großen, grauen Steine lehnte und die Beine anzog, die Knie mit ihren Armen umfassend. "Bitte, erzählen Sie mir davon."
"Wissen Sie, Miss Jamie, damals standen die Zeichen auf Sturm ..."
~~~
Der Abend brach herein, und mit ihm kamen unzählige Mücken an das Gewässer, das Zirpen der Grillen schien an Intensität noch zuzunehmen. Jamie streckte ihre Beine, dabei fiel ihr Blick auf einen jungen Mann, der mit dem Rücken an eine der Weiden gelehnt oberhalb des Hügels stand und zu ihnen hinuntersah.
"Wer ist das?", wandte sie sich an Mite, der müde vom langen Erzählen die Augen geschlossen hatte. Ohne aufzusehen, fragte er: "Ein junger Mann mit dunklem Lockenkopf?"
"Ja, genau."
"Das ist Jim, ein Großneffe von Miss Settrick. Er verbringt seine Semesterferien hier. Er studiert unter anderem americanische Geschichte und fragt mir ständig Löcher in den Bauch."
Jamie lachte auf. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Mite des Erzählens jemals überdrüssig werden konnte.
Jim hatte wohl bemerkt, dass er entdeckt worden war, denn er stieß sich von der Weide ab und kam zu ihnen an den Teich. Er ließ sich neben Jamie ins Gras fallen und zwinkerte ihr fröhlich zu. "Na, Mr Williams, sind Sie wieder eine Ihrer Geschichten losgeworden?" Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er Jamie einen Ordner in den Schoß.
"Das wird Sie interessieren, Miss Roberts."
"Was ist das?"
"Eine Zeichnung, die Amelia beim Umbau des Haupthauses in einer Kommode gefunden hat, unter einem alten Leinenstoff verborgen."
Mite räusperte sich. "Die Zeichnung stammt von meiner Tante Crystal, einer Schwester meines Vaters."
Neugierig hob Jamie den Deckel an und fand ein sorgfältig in Folie gehülltes vergilbtes Papier vor, welches unzählige Knicke aufwies. Sie drehte den Ordner hochkant und betrachtete fasziniert die feinen Federstriche. Sie zeigten einen Mann mit wild anmutenden Locken. Er hatte die Ellbogen auf die Tischplatte eines Gartentischs gestützt, sein Kopf ruhte leicht gesenkt in seinen beiden Händen. Unübersehbar war er in ein aufgeschlagenes, dickes Buch versunken.
"Sehen Sie den kleinen Schneekristall am Ledereinband des Folianten? Ich konnte bereits vier Bilder mit diesem Zeichen finden."
"Es ist eine einfache, gerade deshalb aber sehr ... einnehmende, ja faszinierende Zeichnung. Wen stellt sie dar?"
"Das ist nicht ganz geklärt, doch anhand von Fotografien vermute ich, dass es sich bei dem Motiv um David George Williams handelt."
Jamie strich mit dem Zeigefinger über die Folie. Eine wehmütige Stimmung befiel sie, die ihr den Atem rauben wollte. Leise fragte sie: "Ist es nicht sonderbar, dass wir alle einmal in Vergessenheit geraten? Als hätten wir nie einen Fuß auf diese Erde gesetzt."
Jim schenkte ihr ein Lächeln. Es war seine und ihre Familiengeschichte, die sie in ihren Händen hielt, und offenbar verstand er, wie ihr zumute war.
"Es gibt Personen, die in die Geschichtsbücher eingehen und niemals vergessen werden, wie Lincoln und Davis, Grant und Lee, Jeb Stuart oder Stonewall Jackson. Doch um diese herum leben unzählig viele andere Menschen, von denen bereits zwei oder drei Generationen später niemand mehr spricht. Es bleibt keine Erinnerung an sie."
Jamie spürte für den Bruchteil eines Augenblicks die knochige Hand des alten Mannes auf ihrem kurzen, blonden Haar, ehe er sagte: "Es ist nicht wichtig, ob sich die Generationen nach uns noch an uns erinnern. Wichtig ist allein, dass unsere Namen ins Buch des Lebens geschrieben sind."
"Erzählen Sie deshalb Ihre alten Geschichten, Mr Williams?"
Mite blickte lächelnd über die in der Sonne funkelnde Wasserfläche hinweg. Am gegenüberliegenden Ufer schaukelten die Schilfrohre und flüsterten ihr immerwährendes Lied.